„Symbole des Weiblichen“
Das Wohnhaus Ersatz für den Mutterleib
Kurt E. Becker im Gespräch mit Sigmund Freud
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Erinnerung an das Paradiesesleben im Mutterleib
Kurt E. Becker im Gespräch mit Georg Groddeck
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Durch Sprechen in Verwirrung mit sich selbst geraten
Kurt E. Becker im Gespräch mit José Ortega y Gasset
KEB: Herr Ortega, lassen Sie uns heute das Sprechen zum Thema unseres heutigen Gesprächs machen. Welche Bedeutung hat das Sprechen für den behausten und hausenden Menschen? Mehr noch: für den Menschen überhaupt?
José Ortega y Gasset: Unter Sprechen pflegen wir die Ausübung einer Tätigkeit zu verstehen, mittels deren wir unsere Gedanken dem Nebenmenschen zu offenbaren vermögen. Selbstverständlich ist die Sprache noch vieles andere außerdem, aber alles setzt diese grundlegende Funktion des Sprechens voraus oder enthält sie. So versuchen wir zum Beispiel, indem wir sprechen, einen anderen zu überzeugen, ihn zu beeinflussen, zuweilen ihn zu täuschen.
KEB: Zu täuschen? Sie sprechen von der Lüge?
Ortega y Gasset: Die Lüge ist eine Sprache, die unsere echten Gedanken verheimlicht. Es ist aber einleuchtend, dass die Lüge unmöglich wäre, wenn das primäre und normale Sprechen nicht aufrichtig wäre. Die falsche Münze läuft im Schutze der echten Münze um. Zu guter Letzt erweist sich der Betrug als bescheidener Parasit der Unbefangenheit und Aufrichtigkeit.
KEB: In welchem Zusammenhang stehen Ihrer Meinung nach das Denken und das Sprechen, die Gedanken und die Sprache?
Ortega y Gasset: Wir sagen also, dass der Mensch, wenn er sich zu Sprechen anschickt, es tut, weil er glaubt, das sagen zu können, was er denkt. Nun, gerade das ist trügerisch. So viel leistet die Sprache nicht. Sie gibt, mehr oder weniger, einen Teil von dem wieder, was wir denken, und setzt der Übermittlung des Restes einen unübersteiglichen Damm entgegen. Sie genügt in ausreichendem Maße für mathematische Begriffe und Beweise, doch beginnt schon die Sprache der Physik zweideutig und ungenügend zu werden. In dem Maße aber, wie die Unterhaltung sich mit wichtigeren, menschlicheren, „realeren“ Themen befasst, steigert sich ihre Ungenauigkeit, ihre Schwerfälligkeit und ihre Neigung zur Verwirrung.
KEB: Was heißt das in der konkreten Praxis?
Ortega y Gasset: Entsprechend dem eingewurzelten Vorurteil, dass wir uns durch Sprechen verständigen, reden wir und hören in so gutem Glauben zu, dass wir uns schließlich mehr missverstehen, als wenn wir stumm wären und uns bemühten, uns zu erraten. Ja, noch mehr: Da unser Denken in hohem Maße der Sprache zugeordnet ist – obwohl ich mich weigere, zu glauben, dass diese Zuordnung, wie man zu behaupten pflegt, eine absolute sei –, ergibt es sich doch, dass Denken ein Mit-sich-selbst-sprechen und konsequenterweise ein Sich-selbst-missverstehen ist und dass man dabei große Gefahr läuft, in Verwirrung mit sich selbst zu geraten.
KEB: Last not least: Sprache und Wissenschaft. Was hat es damit auf sich?
Ortega y Gasset: Die heutige Wissenschaft wäre unmöglich ohne die Sprache, nicht nur und nicht so sehr aus dem Grunde der Binsenweisheit, dass Wissenschaft treiben sprechen heißt, sondern umgekehrt, weil die Sprache die urtümliche Wissenschaft ist. Gerade weil das so ist, lebt die moderne Wissenschaft in dauerndem Streit mit der Sprache. Hätte das einen Sinn, wenn die Sprache nicht an sich eine Erkenntnis, ein Wissen wäre, das wir zu steigern versuchen, weil es uns ungenügend erscheint? Wir pflegen diese so offensichtliche Tatsache nicht klar zu sehen, weil die Menschheit, zum mindesten die westliche, seit langer, langer Zeit „nicht im Ernste“ spricht … Wenn wir heute sprechen, sagen wir nicht das, was die Sprache, in der wir sprechen, sagt, sondern indem wir in konventioneller Weise und wie im Scherz das verwenden, was unsere Worte an sich sagen, sagen wir mit diesem Sagen unserer Sprache, was wir sagen wollen. Damit sind wir schließlich in eine erstaunliche Sprachverwirrung geraten.
KEB: Wie darf ich das verstehen?
Ortega y Gasset: Wenn ich sage, dass „die Sonne im Osten aufgeht“ so sagen meine Worte, also die Sprache, in der ich mich ausdrücke, nach ihrem eigentlichen Sinn, dass ein Wesen männlichen Geschlechts (el sol) und spontaner Handlungen fähig – der sogenannte „Sol“ – die Handlung des „Aufgehens“ ausführt und dass es das tut von einem Ort aus, von dem aus die Aufgänge der Gestirne sich vollziehen – im Osten. Nun denn: All das will ich im Ernst nicht sagen, ich glaube nicht, dass die Sonne ein Mann sei oder ein Wesen, das spontaner Handlungen fähig sei, noch dass dieses sein „Aufgehen“ eine Sache sei, die sie von sich aus mache, noch dass in diesem Teil des Raumes in besonderer Weise Aufgänge von Gestirnen vor sich ginge. Wenn ich diesen Ausdruck meiner Muttersprache gebrauche, so verhalte ich mich ironisch und setze das, was ich sagen will, auf scherzhafte Art herab. Sprache ist heute ein reiner Scherz. Aber es ist klar, dass es eine Zeit gab, in der der indoeuropäische Mensch wirklich glaubte, dass die Sonne ein männliches Wesen sei, dass die Naturerscheinungen spontane Handlungen willensbegabter Wesen seien und dass das wohltätige Gestirn jeden Morgen in einem Teil des Raumes geboren und wiedergeboren werde.
KEB: Herr Ortega, ich danke Ihnen für dieses überaus aufschlussreiche Gespräch.
Ein neues Zentrum
Kurt E. Becker im mit Georg Simmel über Wohnstil
KEB: Lassen Sie uns heute über „Stil“ miteinander sprechen, Herr Simmel. Denn guten oder schlechten Stil hat ja immer auch unser Hausen und Wohnen.
Simmel: … In seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen die Pointe, die, damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen, sich unterordnenden Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muss.
Das Kunstwerk, das im Rahmen an der Wand hängt, auf dem Sockel steht, in der Mappe liegt, zeigt schon durch diese räumliche Abschließung, dass es sich nicht in das unmittelbare Leben mischt, wie Tisch und Glas, Lampe und Teppich, dass es der Persönlichkeit nicht den Dienst der „notwendigen Nebensache“ leisten kann.
KEB: In puncto Stil messen Sie dem Möbel eine besondere Relevanz bei…
Simmel: Das Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung des Menschen tragen muss, hat mit wunderbarer instinktiver Zweckmäßigkeit zu der Stilisierung dieser Umgebung geführt: Von allen Gegenständen unseres Gebrauches sind es wohl die Möbel, die am durchgehendsten das Cachet irgendeines „Stiles“ tragen. Am fühlbarsten wird dies am Esszimmer, das schon aus physiologischen Motiven die Ausspannung, das Herabsteigen aus den Erregungen und dem Wogen des einzelnen Tages in eine breitere, mit anderen geteilte Behaglichkeit begünstigen soll. Ohne sich dieses Grundes bewusst zu sein, hat die ästhetische Tendenz von jeher gerade das Esszimmer besonders „stilisiert“ haben wollen und hat die in den siebziger Jahren beginnende Stilbewegung in Deutschland zuallererst das Esszimmer ergriffen.
KEB: Hier wäre eine Exemplifizierung von Stil und Geschmack vielleicht hilfreich? Immerhin beziehen sich Ihre Beobachtungen auf das 19. Jahrhundert.
Simmel: Eigentümlicherweise nämlich besteht – für den modernen Menschen – diese Stilforderung eigentlich nur für die einzelnen Gegenstände seiner Umgebung, keineswegs aber ebenso für die Umgebung als Ganzes. Die Wohnung wie sie der Einzelne nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann durchaus jene persönliche, unverwechselbare, aus der Besonderheit dieses Individuums quellende Färbung haben, die dennoch unerträglich wäre, wenn jeder konkrete Gegenstand in ihr dieselbe Individualität verriete. Dies mag auf den ersten Blick sehr paradox erscheinen. Aber angenommen, es gälte, so würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer, die ganz streng in einem bestimmten historischen Stil gehalten sind, zum Bewohnen für uns etwas eigentümlich Unbehagliches, Fremdes, Kaltes haben – während solche, die aus einzelnen Stücken verschiedener, aber nicht weniger strenger Stile nach einem individuellen Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muss, komprimiert sind, im höchsten Maße wohnlich und warm wirken können.
KEB: Nun vielleicht noch ein abschließendes Wort zur Synthese und der Gesamtform.
Simmel: Ein Umkreis von Dingen, die völlig eines historischen Stiles sind, gehen eben zu einer in sich geschlossenen Einheit zusammen, die das darin wohnende Individuum sozusagen von sich ausschließt, es findet keine Lücke, in der sein persönliches, jenem vergangenen Stile fremdes Leben sich in ihn ergießen oder mit ihm vermählen könnte. Dies wird aber merkwürdigerweise ganz anders, sobald das Individuum sich aus mannigfaltig stilisierten Objekten seine Umgebung nach seinem Geschmack zusammensetzt; dadurch bekommt sie ein neues Zentrum, das in keinem von ihnen für sich liegt, das sie nun aber durch die besondere Art ihrer Zusammenfügung offenbaren, eine subjektive Einheit, ein ihnen jetzt anfühlbares Erlebtsein durch eine persönliche Seele und eine Assimilation an diese. Dies ist der unersetzliche Reiz, weshalb wir unsere Räume mit Gegenständen vergangener Zeiten ausstatten, und aus solchen, deren jeder das beruhigte Glück des Stiles, d. h. eines überindividuellen Formgesetzes trägt, ein neues Ganzes herstellen, dessen Synthese und Gesamtform nun dennoch durchaus individuellen Wesens und auf eine und nur eine besonders gestimmte Persönlichkeit eingestellt ist.
KEB: Herr Simmel, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Die Seele wünscht sich oftmals die Befreiung
Kurt E. Becker im Gespräch mit Carmen Sylva
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021