„Bei-Sich-Selbst-Seins des Lebens“
Eine Art neuer Aristokratie
Kurt E. Becker im Gespräch mit Charles Baudelaire
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Verfügungsrecht über alle Bequemlichkeiten der Erde
Kurt E. Becker im Gespräch mit Cicero
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Liebe zur Schönheit
Kurt E. Becker im Gespräch mit Ralph Waldo Emerson
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Kultur als Verirrung
Kurt E. Becker im Gespräch mit Rudolf Christoph Eucken
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Menschliche Schöpfungen sind leicht zu zerstören
Kurt E. Becker im Gespräch mit Sigmund Freud
KEB: Herr Professor Freud, lassen Sie uns über die menschliche Kultur als wesentliche Voraussetzung einer spezifischen Art des Hausens und Behaustseins miteinander sprechen. Aus Ihrer Sicht: Was ist das Wesentliche der menschlichen Kultur?
Freud: Die menschliche Kultur – ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet – und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen – zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfasst einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln.
KEB: Dafür braucht es spezielle kulturelle Institutionen, die einem jeweils eigenen Zweck folgen …
Freud: … sie bezwecken nicht nur, eine gewisse Güterverteilung herzustellen, sondern auch diese aufrechtzuhalten, ja sie müssen gegen die feindseligen Regungen der Menschen all das beschützen, was der Bezwingung der Natur und der Erzeugung von Gütern dient. Menschliche Schöpfungen sind leicht zu zerstören, und Wissenschaft und Technik, die sie aufgebaut haben, können auch zu ihrer Vernichtung verwendet werden.
KEB: Das ist uns Heutigen nur zu deutlich bewusst geworden. Diese „Mängel“, um mit Ihren Worten zu sprechen, haben welche Konsequenzen?
Freud: Während die Menschheit in der Beherrschung der Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch größere erwarten darf, ist ein ähnlicher Fortschritt in der Regelung der menschlichen Angelegenheiten nicht sicher festzustellen, und wahrscheinlich zu jeder Zeit, wie auch jetzt wieder, haben sich viele Menschen gefragt, ob denn dieses Stück des Kulturerwerbs überhaupt der Verteidigung wert ist. Man sollte meinen, es müsste eine Neuregelung der menschlichen Beziehungen möglich sein, welche die Quellen der Unzufriedenheit mit der Kultur versagen macht, indem sie auf den Zwang und die Triebunterdrückung verzichtet, so dass die Menschen sich ungestört durch inneren Zwist der Erwerbung von Gütern und dem Genuss derselben hingeben könnten. Das wäre das goldene Zeitalter, allein es fragt sich, ob ein solcher Zustand zu verwirklichen ist. Es scheint vielmehr, dass sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muss; es scheint nicht einmal gesichert, dass beim Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf. Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, dass bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und dass diese bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen.
KEB: Nun, mit der Naturbeherrschung des Menschen ist es nicht so weit gekommen, wie Sie vermutet hatten. Im Gegenteil. Wir Heutigen leiden zunehmend unter dem Raubbau, den wir an der Natur betrieben haben und betreiben. Aber im Blick auf die Antagonismen bei der kultürlichen Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander haben sich Ihre Prognosen als korrekt erwiesen. Ich danke Ihnen für diese Gespräch, Herr Professor.
Der Geist des Städters geht auf’s Wechselnde
Kurt E. Becker im Gespräch mit Joseph Görres
KEB: Herr Görres, lassen Sie uns über das Wesen der Natur und ihr Verhältnis zum hausenden Menschen miteinander sprechen. Was sind aus Ihrer Sicht die essenziellen Merkmale des Natürlichen?
Görres: Alle Materie ist nur die im Naturgesetze zur Ruhe gehaltene Bewegung; die Natur selber ist jene Sphynx, die sich hinter den Sternen birgt. Heute noch wie damals, wie früherhin so immerdar, die gleiche, lässt sie in der lautlosen Stille der Unendlichkeit, zur Antwort auf die Fragen, die wir an sie gerichtet, die Wellenschläge ihrer Beredsamkeit ausgehen; aber wie am Grale sind ihre Orakel in Sternenschrift dem Raume eingeschrieben, und im Lapidarstil müssen die Elemente unten sie wieder geben; es ist die Beredsamkeit des Schweigens, in der diese Seherin sich offenbart …
Die freie Natur … verfügt selber nach Wohlbefinden über alles, was von ihr den Ausgang nimmt; in ihrer Welt ist jedes Persönliche für sich selbst unabhängig gesetzt, und alle im Verkehre miteinander sind wieder freigegeben, und werden, nur von einer höheren Freiheit getrieben, zu deren freie Anerkenntnis eben das Prinzip ihrer Selbständigkeit sie drängt … die Natur verbirgt ihre Tätigkeit hinter dem, was sie hervorgerufen; und ihre Hülle wird nun durch die feste Unterlage, über der die Freiheit ihre Taten wirkt, in denen das Gewirkte im Wirkenden sich verbirgt.
KEB: In diese Wirklichkeit der Natur fügt sich nun der hausende Mensch auf eine bestimmte Art und Weise ein. Als Bürger einer Stadt zum Beispiel. Welche Bewandtnis hat es mit der Stadt und ihren Bürgern?
Görres: Die Stadt muss um ihres Bestandes willen Mittelpunkt eines Kreises werden, innerhalb dessen sie einen Kreislauf zwischen sich und der Landschaft begründet, aus dem sie ihre Notdurft gewinnt; also das strömend Bewegliche konsolidierend, während der Landbau aus dem unbeweglich Konsolidierten das Bewegliche gewinnt. Alle Güter, die im Umkreise der Stadt durch die Werktätigkeit ihrer Bürger sich bereiten, suchen über die weitesten Räume sich auszubreiten; und die Strömungen des Handels streben in stets erweiterten Kreisen den Absatz der aufgenommenen zu sichern. Dem städtischen Geiste sind also die Naturschranken wie nicht vorhanden, die die Landschaften umziehen und begränzen; er hält sich eher an die Wässer, die die Täler verbinden und einigen; und so pflegt er denn auch mit Vorliebe innen und außen die Triebe und Neigungen, die auf das Einen und Verbinden in der eingreifenden Allgemeinheit gehen.
KEB: Innen und Außen des Städtischen verhalten sich wie zueinander?
Görres: Der Geist der Landschaftler ist auf‘s Beharrliche gerichtet, erstarrt aber leicht in dieser Richtung, und steift sich dann in ungelenkem Eigensinn und enger, hartnäckiger Beschränktheit. Der Geist des Städters aber geht auf‘s Wechselnde; das vorliegende Material durch Bearbeitung zum Gebrauch durch Wechsel zu bereiten, ist das Geschäft schon des Handwerkers; er sucht stets die Erfindung, einen bisher unerhörten Wechsel … Solche Gewöhnung aber, nach dem Neuen und Neuesten zu ringen, bereitet auch die Gemüter vor, leichtsinnig sich diesem Triebe hinzugeben, und nun flüchtig und vom Hauche jedes Windes hin und her getrieben, jeglichen Kernes der Gesinnung sich entbehrend, wesenlosen Gebilden nachzujagen. Für solche krankhafte Gelüste, sich in allen Gebieten des Möglichen zu versuchen, ist die rechte Schranke und das Heilmittel in jenem steifen, unbeugsamen Bauerneigensinn gegeben; der seinerseits wieder sein Gegengift in der städtischen Rührsamkeit mit Dank erkennen muss.
KEB: Dank an Sie, Herr Görres, für dieses erhellende Gespräch.
Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen
Kurt E. Becker im Gespräch mit Adolf Loos
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Die totale Verflüchtigung des Menschen als Mensch
Kurt E. Becker im Gespräch mit José Ortega y Gasset
KEB: Herr Ortega, Sie hatten die Verfassung des Menschen, in meinen Worten: sein Behaust-Sein, als dem Wesen nach „ungewiss“ charakterisiert. Was hat es mit dieser Ungewissheit auf sich?
José Ortega y Gasset: Es gibt keine menschliche Erwerbung, die sicher wäre. Auch das, was uns am besten gelungen und gesichert erscheint, kann in wenigen Generationen verschwinden. Was wir „Zivilisation“ nennen – all diese physischen und moralischen Bequemlichkeiten, alle diese Möglichkeiten zur Entspannung, alle diese Schutzmaßnahmen, alle diese gewohnheitsmäßig ausgeübten Fähigkeiten und Verfahren, mit denen wir zu rechnen pflegen, bilden in Wirklichkeit ein Repertorium oder System von Sicherheiten, die der Mensch sich aufbaut wie ein Floß in dem Schiffbruch, das das Leben von Anfang an und immer ist – alle diese Sicherheiten sind unsichere Sicherheiten, die eins, zwei, drei und ganz unvermerkt den Händen der Menschen entgleiten und sich in Phantasmen auflösen können.
KEB: Können Sie Beispiele nennen?
Ortega y Gasset: Die Geschichte berichtet uns von unzähligen Rückschlägen, Niedergängen und Entartungen. Es ist aber nicht gesagt, dass nicht noch viel radikalere Rückschläge als alle bekannten möglich wären, einschließlich der radikalsten von allen: der totalen Verflüchtigung des Menschen als Mensch und seines stillschweigenden Rückfalls in die tierische Ordnung, die volle und endgültig Selbstentfremdung. Das Schicksal der Kultur, die Bestimmung des Menschen hängt davon ab, dass wir im Grunde unseres Wesens immer dieses dramatische Bewusstsein bewahren und wie einen in unserem Innern fortklingenden Grundton wahrnehmen, dass für uns nur die Unsicherheit sicher ist.
KEB: Dennoch sprechen wir von Fortschritt …
Ortega y Gasset: Die Idee des Fortschritts drückt sich … nicht nur in der Behauptung aus, dass die Menschheit – ein abstraktes, unverantwortliches, nicht existierendes Wesen, das man damals erfand – fortschreite, was nicht zu bestreiten ist, sondern dass sie auch notwendigerweise fortschreite. Diese Idee chloroformierte den Europäer und den Amerikaner gegen die radikale Empfindung des Wagnisses, das dem Wesen des Menschen entspricht. Denn wenn die Menschheit unvermeidlich fortschreitet, dann heißt das, dass wir jede Wachsamkeit aufgeben können, uns um nichts zu kümmern brauchen, uns nicht für verantwortlich halten und uns darauf verlassen können, dass die Menschheit uns unweigerlich der Vollkommenheit und der ewigen Wonne entgegenführe.
KEB: Das sehen Sie anders?
Ortega y Gasset: Die menschliche Geschichte wird so … zu einer bequemen Touristenreise herabgedrückt, die durch irgendeine transzendente Cook-Agentur organisiert wird. Die Zivilisation, in die wir uns eingeschifft haben und die sicher ihrer Vollendung entgegenfährt, wäre so etwas wie das Schiff der Phäaken, von dem Homer erzählt, dass es ohne Steuermann geradeaus in den Hafen fuhr. Diese Sicherheit ist es, für die wir heute bezahlen müssen. Das ist einer der Gründe, um derentwillen ich Ihnen sagte, dass ich kein Progressist sei. Und darum rufe ich in mir lieber immer wieder die Empfindung wach, die in meiner Jugend die Worte Hegels erzeugten, mit denen er seine Philosophie der Geschichte einleitete: „Betrachten wir die Vergangenheit, das heißt die Geschichte, so ist das erste, was wir sehen: Ruinen.“
KEB: Herr Ortega, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Im Lärm des öffentlichen Lebens untergehen
Kurt E. Becker im Gespräch mit José Ortega y Gasset
KEB: Herr Professor, lange vor Neil Postman haben Sie den Verlust der Privatsphäre durch die Massenzivilisation beklagt. Ihre Diagnose zeigt die Öffentlichkeit auf dem Vormarsch bis in die feinsten Verästelungen unseres individuellen Lebens.
José Ortega y Gasset: Nun aber nimmt diese Tatsache auf einmal geradezu körperliche Formen an. Man denke nur an den Straßenlärm. Die Straße ist überlaut geworden. Eines der winzigen Privilegien, die früher der Mensch genoss, war die Stille, das Recht auf eine gewisse Dosis Stille. Vorbei. Die Straße dringt bis in unseren privaten Winkel vor, nimmt ihn in Besitz und lässt ihn im Lärm des öffentlichen Lebens untergehen. Wer nachdenken und sich in sich selbst versenken will, muss sich daran gewöhnen, dabei wie ein Taucher in einen Ozean von Kollektivgeräuschen untergetaucht zu werden. Man lässt den Menschen um nichts in der Welt mehr mit sich allein. Er muss mit anderen zusammen sein, ob er will oder nicht. Der anonyme Lärm der Hauptstraßen und der Plätze sickert durch die Mauern seines Hauses.
KEB: Sie verdeutlichen diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Veränderung beim Bau unserer Häuser.
Ortega y Gasset: Ein Diagramm könnte die Entwicklung zeigen, die sich seit dem Mittelalter bis in unsere Zeit allein schon in der Mauerdicke vollzogen hat. Im 14. Jahrhundert ist das Haus eine Festung. Heute ist der in Stockwerke aufgeteilte Bau ein Bienenstock, beinahe selber schon eine ganze Stadt, und die Mauern sind dünne Wände, die uns knapp von der Straße trennen. Noch im 18. Jahrhundert sind die Häuser geräumig und tief.
KEB: Und heute?
Ortega y Gasset: Alles zwingt den Menschen, sein Einzeldasein und etwas von der Dichte seines Wesens aufzugeben. Wie das Haus durchlässig geworden ist, so auch der Mensch, und die öffentliche Atmosphäre, die Gedanken, die Entschlüsse, die Neigungen kommen und gehen durch uns hindurch, und jeder beginnt zu merken, dass er am Ende vielleicht ein anderer ist ... Man lässt dem Menschen keinen Winkel mehr, in den er sich zurückziehen, wo er mit sich allein sein kann. Aufgebracht protestieren die Massen gegen jede Reserve unseres Selbst.
KEB: Ihre Kritik an der Zivilisation im Allgemeinen ist die Folge.
Ortega y Gasset: Was wir „Zivilisation“ nennen – all diese physischen und moralischen Bequemlichkeiten, all diese Möglichkeiten zur Entspannung, alle diese Schutzmaßnahmen, alle diese gewohnheitsmäßig ausgeübten Fähigkeiten und Verfahren, mit denen wir zu rechnen pflegen, bilden in Wirklichkeit ein Repertorium oder System von Sicherheiten, die der Mensch sich aufbaut wie ein Floß in dem Schiffbruch, das das Leben von Anfang an und immer ist – alle diese Sicherheiten sind unsichere Sicherheiten, die eins, zwei, drei und ganz unvermerkt den Händen der Menschen entgleiten und sich in Phantasmen auflösen können. Die Geschichte berichtet uns von unzähligen Rückschlägen, Niedergängen und Entartungen. Es ist aber nicht gesagt, dass nicht noch viel radikalere Rückschläge als alle bekannten möglich wären, einschließlich der radikalsten von allen: der totalen Verflüchtigung des Menschen als Mensch und seines stillschweigenden Rückfalls in die tierische Ordnung, in die volle und endgültige Selbstentfremdung. Das Schicksal der Kultur, die Bestimmung des Menschen hängt davon ab, dass wir im Grunde unseres Wesens immer dieses dramatische Bewusstsein bewahren und wir einen in unserem Inneren fortklingenden Grundton wahrnehmen, dass für uns nur die Unsicherheit sicher ist.
KEB: Und die Sicherheit der Unsicherheit sehen Sie mit dem vermeintlichen Fortschritt entschwinden.
Ortega y Gasset: Die Idee des Fortschritts drückt sich nämlich nicht nur in der Behauptung aus, dass die Menschheit – ein abstraktes, unverantwortliches, nicht existierendes Wesen, das man damals erfand, fortschreite, was nicht zu bestreiten ist, sondern dass sie auch notwendigerweise fortschreite. Diese Idee chloroformierte den Europäer und den Amerikaner gegen die radikale Empfindung des Wagnisses, das dem Wesen des Menschen entspricht. Denn wenn die Menschheit unvermeidlich fortschreitet, dann heißt das, dass wir jede Wachsamkeit aufgeben können, uns um nichts zu kümmern brauchen, uns nicht für verantwortlich halten und uns darauf verlassen können, dass die Menschheit uns unweigerlich der Vollkommenheit und der ewigen Wonne entgegenführe … So haben die Dinge der Politik im Abendland ein Extrem erreicht, in dem, weil jedermann den Verstand verloren hat, schließlich alle glauben, ihn zu besitzen. Nur dass dann der Verstand, den ein jeder hat, nicht der seinige ist, sondern der, den der andere verloren hat.
KEB: Herr Professor, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Fußtapfen der Geschichte zeichnen sich in alle Wege
Kurt E. Becker im Gespräch mit Leo Sternberg
KEB: Herr Sternberg, der Rheingau hat für Sie eine ganz besondere Bedeutung als Kulturland besonderen menschlichen Behaust-Seins. Lassen Sie uns darüber sprechen.
Sternberg: Jener scharf begrenzte Landstrich, den nach zwei Seiten der Rhein, nach Osten und Norden die natürliche Schutzwehr eines dichtbewaldeten Gebirges abschließt, gilt von jeher als das deutsche Italien, und kein Geringerer als Bulwer hat ihn das schönste Tal der Welt genannt. Um von einer solchen Landschaft eine Vorstellung zu geben, wußte Niklas Vogt seine Vorlesungen über rheinische Geschichte nur damit zu eröffnen, daß er seine Zuhörer auf die Rheinbrücke von Mainz führte, wo man jenes Bild von dem Stromtal empfängt, das Goethe in den berühmten Versen von
„Des Rheins gestreckten Hügeln,
Hochgesegneten Gebreiten,
Auen, die den Fluß bespiegeln,
Weingeschmückten Landesweiten“
nachzeichnete.
In dieses Gemälde der episch sich ausbreitenden Ufer von Mainz bis Rüdesheim gehört zur Vervollständigung noch die balladeske Stromstrecke unterhalb des Binger Lochs, die die Schiffer das Gebirg nennen. Die Ufer rücken hier dichter zusammen. An ihren steilen Flanken lodert Wald empor, die tausend Balkone und Erker kleiner Weingärten kleben an den Hängen, und Burgen, die nur Felsenzacken zu sein scheinen, sägen sich in die feuchte Luft.
KEB: Schauen wir gemeinsam aufs Tal hinunter.
Sternberg: Wir ersteigen eins ihrer Felsennester und schauen von hoher Warte ins Stromtal hinab. Es ist die Rossel, die Gebirgskante, um die sich der Rhein rechtwinklig herumwendet, um seinen Lauf wieder nach Norden zu nehmen. Unter uns in dem Engpaß, den die Wassermassen in vorgeschichtlicher Zeit durch das uralte Schiefergebirge sich gegraben, keucht ein rauchender Schleppzug neben schäumenden Bänken durch die schmale Fahrrinne des Binger Lochs bergan, flankiert von der Mäuseturminsel und den Trümmern der Ehrenfels. Gegenüber, unter dem Rupertsberg, auf dem das Kloster der Mystikerin Hildegard gestanden, das eiserne Schienennetz von Bingerbrück; unter der Nahemündung die steinerne Brücke, die Drusus gebaut; aus Bingen sich emporgipfelnd Burg Klopp, wo Heinrich IV. als Gefangener seines Sohnes eingekerkert saß; noch überragt von der Kapelle des hl. Rochus, die das Andenken an die Pestzeit nach dem Dreißigjährigen Kriege wacherhält. Ingelheim taucht auf, wo die Pfalz des großen Karl gestanden; an unsrer Seite die Reben, die der Kaiser hier pflanzte, auf den Bergterrassen, die heute das Niederwalddenkmal krönt. Dies alles umfassen wir mit einem einzigen Blick. Entfernungen von Ewigkeiten scheinen aufgehoben. Urweltliches Spiel der Naturkräfte, Römerbrücken und Kaiserpfalzen, Sagentürme und Burgen, Mittelalter und Gegenwart, Kultur und Landschaft, der werdende, der Geschichte gewordene und der arbeitende Strom lagern dicht beieinander zwischen den Weinhügeln des Lebens zu einem untrennbaren Ganzen verwoben, sich beschauend in demselben Spiegel, in dem sie zusammenfließen.
KEB: Das Behaust-Sein im Rheingau ist vielgestaltig, wie Sie zu berichten wissen und findet seinen Ausdruck in einer mannigfaltigen Architektur.
Sternberg: Heitere Monumentalität! Wie hier, so ist die Schrift meißelnder Naturkräfte und in Natur sich wandelnde Vergangenheit überall an Uferhang und Seitental zu lesen. Die Klöster Notgottes und Eberbach, der Teufelskadrich und der Nolling, die Burgen der Brömser, der Wild- und Rheingrafen und der Scharfensteiner, die Wisper, die Hungersteine – jeder Fußbreit Erde und jeder Möwensand hat sein Sagengewispel. Die Fußtapfen der Geschichte zeichnen sich in alle Wege. Schöpferträume der Kultur ranken sich durch den Werktag und schauen uns an mit den Augen ihrer gewachsenen Welt. Denn die offene Verkehrs- und Grenzlage wie die innere Geschlossenheit und Solidarität des Kurstaates Mainz, dem der Landstrich über 800 Jahre lang angehörte, haben ihn trotz seines nur vier Quadratmeilen großen Flächengehaltes in die Schicksalsgemeinschaft des ganzen Stromgebiets oder – was gleichbedeutend ist – ganz Deutschlands verflochten. Noch steht in Winkel das Graue Haus, das älteste Steinhaus Deutschlands, der Wohnsitz des Hrabanus Maurus, der, mit der Hofakademie Karls des Großen in Beziehung, sein Kloster zum Mittelpunkt der damaligen Bildung machte. Noch spiegelt sich die Ingelheimer Au in den Fluten, wo Ludwig der Fromme, von seinen Söhnen auf dem „Lügenfelde« verraten, kummervoll seine Tage beschloß. Noch besitzen wir die kostbar illuminierte Handschrift der Visionen, die Hildegard in Bingen und Eibingen schaute, die erste Mystikerin des Rheinlandes, die zugleich als erste deutsche Naturforscherin und Ärztin gelten darf. Noch steht die Stätte in Eltville, wo Gutenberg die Brüder Bechtermünze in der Buchdruckerkunst unterwies. Schloß Vollrads mit seinem alten Turm ragt auf, der Stammsitz Richards v. Greiffenclau, des mächtigen Trierer Kurfürsten, an dem Huttens Reformationspläne zerschellten. Der grandiose Renaissancebau des Reichsfeldmarschalls Hilchen, des Waffengefährten Sickingens, pflanzt stolz sich auf in der Straßenfront von Lorch, kaum eine Wegstunde entfernt von dem Friedhof von Sauerburg, wo von dem Letzten aus dem Geschlechte seines Freundes Sickingen die halbverloschene Inschrift meldet: „Er starb im Elend.“
KEB: Soweit zu Geschichte, Baudenkmalen, Natur und Kultur. Und die Menschen im Rheingau. Was fällt Ihnen zu denen ein?
Sternberg: Ebenso wie man hier durch einen Naturschutzpark der Geschichte zu wandeln glaubt, in dem alle Kultur nur ein Stück der Landschaft zu sein scheint, sind auch die Bewohner hier „gewachsen“. Es ist gut, daß die Rheingauer im Rheingau wohnen – pflegt der Volksmund über die schwachen Kinder der rheinischen Sonne zu spotten. Winzer und Schiffer sind sie. Der Wein ist das Gold, das in Schweden- und Franzosenkriegen ihnen das Leben rettete. In Wein ausgemessen sind sogar die Strafen in ihren alten Brunnenbüchern. Ihr Wald, dessen Äste sie zu der lebendigen Festungsmauer des sogenannten Gebückes verflochten, bildete ihren Schutzwall, gegen den Friedrich von der Pfalz und Bernhard von Weimar nichts auszurichten vermochten. Und Rheingauer Luft machte – nach altem Rechtssprichworte – frei.
KEB: Aber auch die Romantiker vermochten dem Rheingau einiges abzugewinnen.
Sternberg: In diesem Himmelsstrich, dem deutsche Farbigkeit und italienische Formengröße das Gepräge geben, fanden Clemens Brentano und sein Kreis die phantastische Realität des romantischen Lebensgefühls. In dem Brentanoschen Landhaus zu Winkel, von dem die Rheinromantik ihren Ausgang nahm, schrieb Bettina in „kristallenen Mitternächten“ jene Naturevangelien von „schwarzkantigen Pfalzen im Strom, die mit ihren elfenbeinernen Festen und silbernen Zinnen ganz ins Mondlicht eingeschmolzen sind“, und wies damit dem Zauber des Gaues in der deutschen Geistesgeschichte für immer seinen Platz an.
KEB: Ich danke für das Gespräch.
Flecke beseitigen
Kurt E. Becker im Gespräch mit Magda Trott
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Ein sich selbst preisgebender Funktionär: der Mensch
Kurt E. Becker im Gespräch mit Alfred Weber
KEB: Herr Professor Weber, lassen Sie uns über die Weltlage und die Menschen in Ihrer Zeit miteinander sprechen. Ein erster Befund Ihrerseits?
Weber: Am Ende der bisherigen Geschichte … stehen wir wieder in Weltangst. Inmitten all der Sicherungen, die für das Dasein, vor allem das innere Dasein, aufgebaut schienen. In Angst um das Wesen des Menschen, dessen Gefährdung sich uns in Symptomen verdeutlicht …
KEB: Was sind diese Symptome?
Weber: Indem eine Kultur, die abendländische, die so lange schlafende Technik vom 16. und 17. Jahrhundert an systematisch entwickelte und mit ihren nunmehr überlegenen Mitteln, mit einer expansiven, der kapitalistischen Sozialstruktur, mit ihren Menschenmassen und Ideen seitdem den Globus eroberte, trat an die Stelle der bisher weitgehend von klimatischen Veränderungen auf der Erde strukturierten Menschheitsgeschichte diejenige Geschichte, die von der Wandlung der menschlichen Existenz und von den inneren Zusammenhängen und Gesetzen dieser Wandlung bestimmt ist. Man kann sagen: Es trat hinter bisher naturhaft bestimmtes Geschehen soziologisch bestimmtes, das im Zusammenspiel der soziologischen Faktoren, vor allem durch die darin eingeschlossene Revolutionierung der Technik endlich die Erde selbst in jenen neuen kleinen Stern verwandelte, auf dem wir heute leben.
KEB: Was heißt dies konkret?
Weber: Der Menschentyp, der dieses Zeitalter in der Naivität seines Expansionsdrangs und seines Verlangens nach Daseinsbeherrschung schuf, hat nicht gespürt, dass er nicht nur einen Diener, sondern auch einen Herrn seines Lebens in ihm entstehen ließ, nicht nur einen Freund, sondern auch einen möglicherweise übergewaltigen Feind.
KEB: Damit meinen Sie den Menschen selbst und seine Zivilisation?
Weber: Dieser zivilisatorische Komplex ward als ein riesiges unerbittliches Etwas geboren, das sich selbst immer weiter gebiert nach seinen eigenen Gesetzen. Wie ein die Erde überspannendes Gehäuse gleicht es einem Raum, in dem vermöge der zunehmenden Entfernungsaufhebung alle Schätze, die diese Erde bietet, alle schönsten Orte, die sie besitzt, alle köstlichsten Gaben, die sie zu verschenken hat – funktioniert der Mechanismus richtig – in grenzenlosem raschem Fortgang ungefähr jedem jederzeit angeboten werden, allerdings in mechanisch abgemessenen Portionen. Um den einzigen gewaltigen Preis, dass der Mensch die Selbstordnung und Selbstgestaltung seiner Existenz weitgehend dahingibt und dass er in Gefahr gerät, indem er aktiv ein Teil des Funktionierens wird, als Funktionär sich selber preiszugeben.
KEB: Sie beschreiben den hausenden Menschen, wie wir ihn auch heute noch erleben …
Weber: Dieses Etwas wird von der Menschheit als Ganzem in gegenseitiger Beeinflussung und Konkurrenz aller ihrer Teile mit großem Eifer aufgebaut und in Gang erhalten. Es wird in gegenseitiger Konkurrenz aller ihrer Teile mit emsiger Arbeit nach seinen eigenen ihm innewohnenden Gesetzen weiter vorwärtsgetrieben. Nur wenn die Menschheit als Ganzes, richtiger gesagt: bis zum letzten heute überall am Weiterbau eifrig mitwirkenden Glied, sich entschlösse, mit diesem Weiterbau Schluss zu machen – nur dann würde es aufhören, wie eine Lawine weiter zu wachsen, deren Anwachsen man sieht, deren letzten Ort man aber nicht kennt. In einer großen, weltgeschichtlich wohl ohne Parallele dastehenden Unbefangenheit hat der expansive Mensch des Abendlandes mit einem heute einigermaßen vermessen anmutenden Übermut sich diesen Herren, dessen Herrschermacht über ihn, einmal geschaffen, sich nun automatisch vermehrt, selbst übers Haupt gesetzt, im Effekt die ganze Menschheit, ja die Erde selbst in die ausgelöste Verwandlung verstrickend.
KEB: Ein abschließendes Wort zur Stellung dieses hausenden Menschen gegenüber der Natur?
Weber: Unvorstellbar und im Interesse der gesamten Menschheit schlechthin nicht zu verantworten ist auch die mit dieser Vermehrung und den heutigen technischen Verwertungsgewohnheiten in enger Verbindung stehende Fortsetzung der Ausplünderung der Natur, welche in gewaltigen Bezirken rücksichtslos die Fruchtbarkeit des Bodens und den bisherigen Wasserhaushalt der Natur zerstört und die seltenen Bodenschätze, die für den heutigen Zivilisationsaufbau unentbehrlich sind, so ausbeutet, als ob sie ersetzbar wären, während sie sich doch naturgemäß erschöpfen.
KEB: Sie sprechen bereits 1948, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes, davon, lieber Herr Professor, dass darin „die eigentliche Apokalyptik der Geschichte“ liegt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen und danke für das Gespräch.
Alfred Weber, der jüngere Bruder Max Webers, geboren 1868 in Erfurt, gestorben 1958 in Heidelberg. Er wuchs in Berlin auf und empfing im Hause seines Vaters, des nationalliberalen Politikers Max Weber sen., die entscheidenden geistigen Eindrücke, die sein Leben prägten. Weber studierte Jura und Nationalökonomie, promovierte und habilitierte bei Gustav Schmoller, wurde 1899 Privatdozent an der Berliner Universität. 1904 wurde er als Ordinarius für Staatswissenschaft an die deutsche Universität Prag, drei Jahre später an die Universität Heidelberg berufen. Hier lehrte er, nur mit Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg und die NS-Zeit, bis zu seinem Tod Nationalökonomie und Soziologie.