„Mitten ins Erinnerungsland hinein“
Mitten auf den Gottesschoß gesetzt
Kurt E. Becker im Gespräch mit Lou Andreas-Salomé
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Fliegen durch Räume ohne Grenzen
Kurt E. Becker im Gespräch mit Ernst Barlach
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Eine unschätzbare Perle
Kurt E. Becker im Gespräch mit Annette von Droste-Hülshoff
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Noch mehr!
Kurt E. Becker im Gespräch mit Johann Wolfgang von Goethe
KEB: Herr Geheimrat, wie Sie uns in „Dichtung und Wahrheit“ wissen lassen, kamen Sie am 28. August 1749, „mittags mit dem Glockenschlage 12“ in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Sternenkonstellation, von der Sie schreiben, war Ihnen bei Ihrer Geburt günstig, was Wunder, dass Sie auch nur Freundliches über Ihre Kindheit und Jugend zu berichten haben. Lassen Sie uns heute über Ihr Elternhaus miteinander sprechen.
Goethe: Ohne … hierüber eine genaue Untersuchung anzustellen, … bin ich mir bewusst, dass wir in einem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus zwei durchgebrochenen Häusern bestand. Eine turmartige Treppe führte zu unzusammenhängenden Zimmern, und die Ungleichheit der Stockwerke war durch Stufen ausgeglichen. Für uns Kinder, eine jüngere Schwester und mich, war der untere weitläufige Hausflur der liebste Raum, welche neben der Türe ein großes hölzernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele Häuser versehen waren, nannte man ein Geräms. Die Frauen saßen darin um zu Nähen und zu Stricken; die Köchin las ihren Salat; die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Straßen gewannen dadurch in der guten Jahreszeit ein südliches Ansehen. Man fühlte sich frei, indem man mit dem Öffentlichen vertraut war. So kamen auch durch diese Gerämse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewannen drei gegenüber wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen, gar lieb, und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise.
KEB: Mit den Brüdern von Ochsenstein verbindet Sie ein kindliches Erlebnis der besonderen Art – auch das Wort „Knabenstreich“ schiene mir dafür zulässig… Sie selbst sprechen von „Eulenspiegeleien“...
Goethe: Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schlüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, dass es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, dass ich sogar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: Noch mehr! Ich säumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwährendes Rufen: Noch mehr! nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben…
Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten.
KEB: In der Tat, eine herzige Geschichte, lieber Herr Geheimrat. Ein Wort vielleicht noch zu der Straße, an der Ihr Elternhaus gelegen war. Was für eine Bewandtnis hatte es mit dem „Hirschgraben“?
Goethe: Wir hatten die Straße, in welcher unser Haus lag, den Hirschgraben nennen hören; da wir aber weder Graben noch Hirsche sahen, so wollten wir diesen Ausdruck erklärt wissen. Man erzählte sodann, unser Haus stehe auf einem Raum, der sonst außerhalb der Stadt gelegen, und da, wo jetzt die Straße sich befinde, sei ehmals ein Graben gewesen, in welchem eine Anzahl Hirsche unterhalten worden. Man habe diese Tiere hier bewahrt und genährt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen Hirsch öffentlich verspeiset, den man denn für einen solchen Festtag hier im Graben immer zur Hand gehabt, wenn auch auswärts Fürsten und Ritter der Stadt ihre Jagdbefugnis verkümmerten und störten, oder wohl gar Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dies gefiel uns sehr, und wir wünschten, eine solche zahme Wildbahn wäre auch noch bei unsern Zeiten zu sehen gewesen.
KEB: Ein letztes Wort vielleicht noch zu Ihrem Lieblingszimmer, dem „Gartenzimmer“.
Goethe: Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt. Über jene Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle sah man in eine schöne fruchtbare Ebene; es ist die, welche sich nach Höchst hinzieht. Dort lernte ich sommerszeit gewöhnlich meine Lektionen, wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen.
KEB: Herr Geheimrat, meinen Dank für diese schöne Erinnerung an Ihre Kinderzeit.
Die gute alte Märchenzeit
Kurt E. Becker im Gespräch mit Heinrich Heine
KEB: Herr Heine, in Ihrem Memoiren-Fragment berichten Sie von Ihrem kindlichen „Hausen“ in der Dachstube der „Arche Noä“, dem Häuschen des von Ihnen so sehr geschätzten Oheims Simon de Geldern. Über der Türe dieses Häuschens war das Bild der Arche Noä ausgemeiselt und bunt koloriert ein echter Blickfang. Ihre Blicke jedoch wurden von Ihrem Onkel in eine ganz andere Richtung gelenkt.
Heine: Er beschenkte schon den Knaben mit den schönsten, kostbarsten Werken; er stellte zu meiner Verfügung seine eigene Bibliothek, die an klassischen Büchern und wichtigen Tagesbroschüren so reich war, und er erlaubte mir sogar auf den Söller der Arche Noä in den Kisten herumzukramen, worin sich die alten Bücher und Skripturen des seligen Großvaters befanden.
Welche geheimnisvolle Wonne jauchzte im Herzen des Knaben, wenn er auf jenem Söller, der eigentlich eine große Dachstube war, ganze Tage verbringen konnte.
KEB: So ganz allein waren Sie nicht in dieser recht unwirtlichen Dachstube …
Heine: Es war nicht eben ein schöner Aufenthalt, und die einzige Bewohnerin desselben, eine dicke Angorakatze, hielt nicht sonderlich auf Sauberkeit, und nur selten fegte sie mit ihrem Schweif ein bisschen den Staub und das Spinnweb fort von dem alten Gerümpel, das dort aufgestapelt lag.
KEB: Aber das alles störte Sie nicht weiter.
Heine: ... mein Herz war so blühend jung, und die Sonne schien so heiter durch die kleine Lukerne, dass mir alles von einem fantastischen Lichte übergossen schien und die alte Katze selbst mir wie eine verwünschte Prinzessin vorkam, die wohl plötzlich aus ihrer tierischen Gestalt wieder befreit sich in der vorigen Schöne und Herrlichkeit zeigen durfte, während die Dachkammer sich in einen prachtvollen Palast verwandeln würde, wie es in allen Zaubergeschichte zu geschehen pflegt.
KEB: Na ja, die Realität hatte wohl ein anderes Gesicht?
Heine: ... die gute alte Märchenzeit ist verschwunden, die Katzen bleiben Katzen, und die Dachstube der Arche Noä blieb eine staubige Rumpelkammer, ein Hospital für inkurablen Hausrat, eine Salpêtrière für alte Möbel, die den äußersten Grad der Dekretitüde erlangt und die man doch nicht vor die Türe schmeißen darf, aus sentimentaler Anhänglichkeit und Berücksichtigung der frommen Erinnerung, die sich damit verknüpfen.
Da stand eine morsch zerbrochene Wiege, worin einst meine Mutter gewiegt worden war; jetzt lag darin die Staatsperücke meines Großvaters, die ganz vermodert war und vor Alter kindisch geworden zu sein schien.
KEB: Dergleichen gehört eben zum nachhaltigen Hausen über Generationen hinweg dazu …
Heine: Der verrostete Galanteriedegen des Großvaters und eine Feuerzange, die nur einen Arm hatte, und anderes invalides Eisengeschirr hing an der Wand. Daneben auf einem wackligen Brette stand der ausgestopfte Papagei der seligen Großmutter, der jetzt ganz entfiedert und nicht mehr grün, sondern aschgrau war und mit dem einzigen Glasauge das ihm geblieben, sehr unheimlich aussah.
KEB: Auch Ihre Mutter war wohlvertraut in Ihrer Kindheit mit diesem Söller.
Heine: In einem Winkel lag eine alte Flöte, welche einst meiner Mutter gehört; sie spielte darauf, als sie noch ein junges Mädchen war, und eben jene Dachkammer wählte sie zu ihrem Konzertsaale, damit der alte Herr, ihr Vater, nicht von der Musik in seiner Arbeit gestört oder auch ob dem sentimentalen Zeitverlust, dessen sich seine Tochter schuldig machte, unwirsch würde. Die Katze hatte jetzt diese Flöte zu ihrem liebsten Spielzeug erwählt, indem sie an dem verblichenen Rosaband, das an der Flöte befestigt war, dieselbe hin und her auf dem Boden rollte.
KEB: Welch schöne, generationenübergreifende Erzählung, lieber Herr Heine. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Es hat viel für sich, in einer kleinen Straße geboren worden zu sein
Kurt E. Becker im Gespräch mit Emmy Hennings
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Kleine weltvergessene Stadt
Kurt E. Becker im Gespräch mit Charlotte Niese
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Ein Tag glich dem andern
Kurt E. Becker im Gespräch mit Wanda von Sacher-Masoch
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Das erste Goetheanum ein Doppelkuppelbau
Kurt E. Becker im Gespräch mit Marie Steiner
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021
Ein ganzes Wald- und Mühlenidyll
Kurt E. Becker im Gespräch mit Theodor Storm
Das Gespräch findet sich in „Der behauste Mensch“, Patmos Verlag 2021